Er mache keinen Geschichtsunterricht, sondern erzähle nur, was er persönlich erlebt habe, sagt Dr. Leon Weintraub, 98 Jahre alt und Holocaust-Überlebender, als er in der Polizeiakademie in Hann. Münden seinen Vortrag beginnt. Er hat sofort die volle Aufmerksamkeit von 150 Studierenden der Polizeiakademie und Gästen aus Politik, Polizei und Gesellschaft, unter ihnen Superintendentin Marit Günther.
Kein Laut ist zu hören, während Dr. Weintraub seine Erinnerungen mit dem Publikum teilt. Er erinnere sich in Bildern, sagt er, und lässt diese Bilder beim Sprechen lebendig werden. Von den Kinderjahren in schlichten Verhältnissen im polnischen Lodz (Łódź), als trotz Armut die Welt noch in Ordnung war, berichtet er, über die ersten Übergriffe, die er als Jude selbst erfuhr oder mitansehen musste, vom Einmarsch der deutschen Wehrmacht in seine Heimatstadt, dem Überlebenskampf im Ghetto, im Konzentrationslager, in der Zwangsarbeit. Seine Bilder sind eindrücklich.
Wenn er erzählt, wie ihm das Geräusch der unzähligen nagelbeschlagenen Wehrmachtstiefel auf der Straße Angst machte oder beschreibt, wie die schwarzen Rauchwolken aus dem Krematorium in Birkenau mit dem Geruch nach verbranntem Fleisch alles durchdrangen, rückt das, was so lange zurück liegt, näher. Wie schwer es dennoch ist, sich die damalige Lage wirklich vorzustellen, macht Dr. Weintraub mit einer kurzen direkten Ansprache an die Anwesenden deutlich: Sicher hätten diese auch mal so viel zu tun, dass sie das Mittagessen versäumten und dann abends dächten „jetzt habe ich aber Hunger!“ Das aber sei kein Hunger, sondern allenfalls „gesteigerter Appetit“. Hunger fülle das ganze Gehirn aus, „der einzige Gedanke war dann, wie kann ich etwas zu essen bekommen?“
Leon Weintraub überlebte, weil er sich mit Häftlingen, die zur Zwangsarbeit angefordert worden waren, aus dem KZ schmuggelte. „So lange wir für die Nazis nützlich waren, hatten wir eine Chance zu überleben“, sagt er. In Sicherheit war er auch dann noch lange nicht, und selbst der Neuanfang nach dem Krieg in Polen fand mit der antisemitischen Welle, die 1968 das Land ergriff, ein jähes Ende, Dr. Leon Weintraub wanderte nach Schweden aus.
Von seiner 80-köpfigen Familie habe nur jedes 5. Familienmitglied überlebt. Es sei ihm heute eine Verpflichtung den ermordeten Verwandten gegenüber, zu erzählen, was damals passierte, auch noch mit fast 99 Jahren. Dieses Kapitel der Geschichte sei sehr gründlich in Wort und Bild dokumentiert, dennoch gebe es heute Menschen, die es leugneten. Nicht verstehen kann er, wie ein Mann in seiner polnischen Geburtsstadt sich heute selbst stolz als Nazi bezeichnet, obwohl dessen Großvater von den Nationalsozialisten ermordet wurde.
Groll oder Hass hört man aus seinen Worten nicht. Er sei Arzt geworden mit dem Schwerpunkt Frauenheilkunde und Geburtshilfe, weil er nach all dem Sterben dem Leben auf den Weg helfen wollte, beschreibt er es und betont: egal, welche Farbe die Haut hat, was darunter liegt ist bei allen Menschen gleich. Mit einem Blick aufs noch größere Ganze sagt er: „Wir sind nur ein Stäubchen im Weltall. Ist es da nicht absurd, uns noch in viele andere Gruppen zu teilen?“
Die geschichtliche Bedeutung des 9. November skizzierte Carsten Rose, der als Direktor der Polizeiakademie Niedersachsen die Gäste begrüßte. Gerade die Polizei sei gefordert, dem Antisemitismus entgegenzutreten. Dass Menschen jüdischen Glaubens sich nicht sicher fühlten, sei schockierend. Als Direktor der Akademie setze er dem Bildung und Aufklärung entgegen. Er verwies auf die Kampagne des Innenministeriums „Niedersachsen gegen Antisemitismus“. An Dr. Weintraub gewandt sagte er: „Sie sind für uns eine Brücke in die Gegenwart und ein echter Humanist.“
Mit der Rolle der Polizei hat sich Dr. Dirk Götting, Leiter der Forschungsstelle für Polizei- und Demokratiegeschichte, intensiv befasst. Als Polizeibeamter und Historiker stelle er sich immer die Frage nach den Motiven, habe das Handeln und Unterlassen von Polizeiangehörigen in der NS-Zeit genauer angesehen, dennoch fehlten ihm oft die Worte, die Shoa zu beschreiben. Die Möglichkeiten, Erinnerungen von damals zu hören, nehmen ab, doch sei das Erinnern an die Shoa zentral. „Mit Veranstaltungen wie diesen erzeugen wir neue Erinnerungen.“
Dransfeld
"Erinnerungen lebendig halten, dem Antisemitismus entgegentreten" das fordert auch Pastorin Ulrike Seebo, die in Dransfeld die Gedenkstunde im „Raum der Erinnerung“ (ehemalige Dransfelder Synagoge) besuchte. Eingeladen hatte das Dransfelder Bürgerforum.
Ernst Achilles und Ingo Trüter machten deutlich, dass Erinnerung und Gedenken wichtig seien, aber kein automatisches Mittel gegen Antisemitismus und Rassismus heute bereithielten. Andere Kulturen und Religionen richtig kennenzulernen und sie zu verstehen, würde hingegen dazu beitragen, dass man sich einander annähern könne und nicht aus Angst und Unwissenheit andere diskriminiere.
Diesem Ansatz folgt der Film von den Schüler:innen des ehemaligen blauen Jahrgangs der IGS Göttingen-Geismar über das jüdische Fest „Purim“, in dessen Erzählung zum Beispiel eine Frau die starke Hauptrolle spielt und am Festtag selbst karnevalsgleich, ausgelassen gefeiert wird. Die ehrlichen und klaren Worte von Alva, Johanna, Meije und Nele über ihre Erfahrungen im Austausch mit der jüdischen Gemeinde und die Erlebnisse beim Filmdreh sorgten trotz des eigentlich traurigen Anlasses für Schmunzeln im Publikum, eine positiv-optimistische und zugleich feierliche Atmosphäre.
Am Ende der Veranstaltung wurden die Namen der ehemaligen jüdischen Mitbürger Dransfelds verlesen, die vor den Nationalsozialisten flohen oder vertrieben und ermordet wurden. Wie im jüdischen Glauben üblich wurden zuletzt Steine und ein Kranz in ihrem Andenken niedergelegt.
Göttingen
In Göttingen versammelten sich traditionell am Platz der Synagoge hunderte Menschen, um an die Novemberpogrome zu erinnern. Darunter auch die Teilnehmenden inkl. Kantor Bernd Eberhardt des "Klangraum"-Gottesdienstes der St. Johanniskirche, in dem jüdische Synagogal-Musik erklang.
Esther Heling-Hitzemann, Vorsitzende der Göttinger Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, schlug in ihrer Rede einen Boegen von den Pogromen vor 86 Jahren zu dem Angriff der Hamas auf Israel 2023 und die Folgen davon. „Juden würden für die Politik Israels verantwortlich gemacht, dabei aber nicht als deutsche Staatsangehörige wahrgenommen“. Sie hätten ebenso wie die übrigen Deutschen nicht die Möglichkeit, Einfluss auf die Regierung Israels zu nehmen.
Esther Heling-Hitzemann, Vorsitzende der Göttinger Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, schlug in ihrer Rede einen Boegen von den Pogromen vor 86 Jahren zu dem Angriff der Hamas auf Israel 2023 und die Folgen davon. „Juden würden für die Politik Israels verantwortlich gemacht, dabei aber nicht als deutsche Staatsangehörige wahrgenommen“. Sie hätten ebenso wie die übrigen Deutschen nicht die Möglichkeit, Einfluss auf die Regierung Israels zu nehmen.
Oberbürgermeisterin Petra Broistedt ging auf die Gräuel, befeuert durch die Propaganda, der Nazizeit ein und zog Parallelen zur heutigen Zeit, in der Rechtsextreme ebengalls die Gesellschaft vergiften würden. Aber Göttingen soll ein Ort bleiben, an dem das Miteinander über das Trennende siegt.“
Gestaltet wurde die diesjährige Veranstaltung von einer Lerngruppe des Max-Planck-Gymnasiums unter der Leitung von Frauke Bury. Die Schüler:innen zeigten exemplarisch am vielfältigen Schicksal der Familie Meininger von Flucht, Deportation und Suizid, was das Leben im nationalsozialistischen Göttingen für die jüdische Bevölkerung bedeutete. Die musikalische Gestaltung wurde ebenfalls von Schüler:innen des Max-Planck-Gymnasiums übernommen.
Seit 1973 findet in Göttingen jedes Jahr eine Gedenkstunde zur Erinnerung an die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 statt.
Seit 1973 findet in Göttingen jedes Jahr eine Gedenkstunde zur Erinnerung an die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 statt.